Religiöse Bauten heute – Räume zwischen Spiritualität, Design und Alltag
Wo einst Repräsentation und Monumentalität dominierten, stehen heute Atmosphäre, Material und Nutzung im Vordergrund. Glaubensräume werden zu Orten der Begegnung – offen, wandelbar, in den Alltag integriert. Vier aktuelle Projekte zeigen, wie vielfältig Spiritualität architektonisch erfahrbar wird.
The Church
Mitten in einem geschäftigen Bürogebäude in Taichung liegt The Church, entworfen von CJ Studio. Der Raum wurde als stiller Gegenpol zur umgebenden Arbeitswelt konzipiert – ein Ort, der Konzentration und Andacht im Alltag ermöglicht. Helle Holzverkleidungen, klar gesetzte Vertikalen und eine gleichmäßige Raumgeometrie bestimmen die Atmosphäre. Die zurückhaltende Gestaltung lenkt den Blick nicht nach oben, sondern nach innen. Alles wirkt ruhig, präzise, fast selbstverständlich. So entsteht ein spiritueller Raum ohne Inszenierung – reduziert, klar und in seiner Schlichtheit berührend. Das Projekt wurde 2024 mit dem iF DESIGN AWARD ausgezeichnet.
Ossuary Hall «Prabha»
Licht ist das zentrale Element der Ossuary Hall «Prabha» im Myōrenji-Tempel, Ōita, Japan. Das 2025 mit dem iF Design Award ausgezeichnete Projekt von teamSTAR erweitert den historischen Tempelkomplex um einen zeitgenössischen Ort der Trauer und des Gedenkens.
Die Halle besticht durch ihre präzise Lichtführung, durch die das Sonnenlicht sanft über Wände und Nischen gleitet. Ein trockener Steingarten, der «Garden of Silence», verbindet den Neubau mit dem Tempelgelände. Seine Felsen stammen vom Ort selbst, die Weißkiefer als zentrales Element symbolisiert Beständigkeit. Schlichtes Material und präzise Proportionen verleihen dem Raum jene leise Intensität, in der Spiritualität und Zeit aufeinander treffen.
Open Chapel Hillerhausen
Entworfen von Denzer & Poensgen Architekten und 2024 fertiggestellt, formuliert die Open Chapel HillerhausenSpiritualität über Raum, Topografie und Material. Massive Steinwände umschließen einen offenen Hof, der sich weit in die Landschaft öffnet und den Himmel einbezieht. Der Dialog mit der Umgebung steht im Mittelpunkt: Wind, Klang und jahreszeitliche Veränderung prägen den Raum. Die Kapelle verzichtet auf jedes religiöse Zeichen – sie findet Spiritualität in der Erfahrung des Ortes selbst. Ein stiller Ort des Innehaltens, an dem Landschaft, Material und Mensch in Beziehung treten.
Tiny Church Tolvkanten
Die Tiny Church Tolvkanten, entworfen von Julius Nielsen Office und 2025 fertiggestellt, dient der Hans-Egedes-Gemeinde im Kopenhagener Stadtteil Nordhavn als temporärer Versammlungsort, bis die neue Pfarrkirche des Quartiers entsteht. Der zwölfseitige Grundriss verweist auf die zwölf Apostel und übersetzt dieses Symbol in eine Architektur der Gleichwertigkeit – offen, gemeinschaftlich und ohne hierarchische Achse
Die Konstruktion aus FSC-zertifizierter Douglasie ruht auf Schraubfundamenten und verzichtet auf Bodeneingriffe. Sichtbares Holz, klare Details und präzise Proportionen verleihen dem kleinen Bau eine stille Präsenz.
Der Raum kann sich öffnen und wandeln – für Gottesdienste, Musik oder Begegnung. So entsteht ein temporärer Sakralraum, in dem Spiritualität, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft eine zeitgemäße Form finden.
Zeitgenössische Sakralarchitektur spricht eine neue Sprache: leise, offen und materiell präzise. Ob im japanischen Tempelkomplex, im taiwanesischen Bürohaus oder in der nordischen Holzkapelle – sie zeigt sich heute vielseitiger denn je. Statt nach Pracht sucht sie nach Bedeutung. Design wird zum Werkzeug, um spirituelle Erfahrungen in die Gegenwart zu übersetzen: Raum, Material und Licht werden zu modernen Formen des Gebets – und Spiritualität zu einer universellen, zeitgemäßen Erfahrung.